Mein Nasenkino
- Sven Barthel

- 28. Feb. 2019
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Okt. 2019
Duft ist Erinnerung. Wird ein Parfüm vom Markt genommen, ist das ein Angriff auf unsere innere Festplatte.

Laut Wissenschaft wirkt der Geruchssinn von allen Sinnen am stärksten auf Emotionen.
Glaub’ ich sofort, wenn ich daran denke, wie sehr es mich ärgert, dass „Background“ vom Markt genommen wurde, Jil Sanders würzig-süßes, heliotropisches Duftmeisterwerk aus dem Jahr 1993. Der klobige Flakon aus dunkelgrünem Glas mit den rund geschliffenen Kanten und seinem tiefschwarz glänzenden Deckel mit Chrom-Akzent stand eines Tages bei uns im Bad. Einen Tag lag gehörte dieser Duft meinem Vater ̶ nachdem ich an ihm gerochen hatte, wanderte er heimlich in mein Zimmer und gehörte mir. Eine typische 1990er-Jahre-Komposition: synthetisch und vielschichtig. Ganz im Gegensatz zu den heutigen uninspirierten Herrendüften, die irgendwie alle ziemlich flach nach Zitronenwasser riechen. „Background“ war cremig-samtig-warm, gleichzeitig aber auch eine bisschen grün und viel edler als der rot-gezuckerte „Joop! Homme“, der vier Jahre älter ist, vom gleichen Hersteller stammt, aber heute noch verkauft wird. Fünf oder sechs Jahre nach seiner Lancierung hatte es sich mit „Background“ auch schon wieder ausgesprüht. Parfümfabrikant „Coty“ stellte die Produktion ein.
Die Bedeutung des Verlusts von einst lieb gewonnenen Düften habe ich vor gut drei Jahren realisiert, als ich nach einem Duft suchte, der meine Persönlichkeit bestmöglich präsentiert, und in den Parfümerien nicht fündig wurde, sehr wohl aber in einem alten Schuhkarton mit ebenso alten Phiolen, gefüllt mit den Kultdüften meiner Teenie-Zeit. Mit dem Durchschnuppern der Glasröhrchen weckte ich Erinnerungen an Ereignisse in meiner Jugend, als noch so viel Zukunft vor mir lag und noch relativ wenig Vergangenheit hinter mir. Wird ein Duft, mit dem ich schöne Erlebnisse verbinde, vom Markt genommen, ist das ein Angriff auf meine Erinnerungen. Der Versuch der Kosmetikindustrie Daten auf meiner geistigen Festplatte zu löschen, um darauf Platz für Neues zu schaffen, das ihr Geld in die Kasse spült, ist schnöder Kapitalismus. Bis man nämlich etwas Gleichwertiges gefunden hat oder wieder in eine erinnerungswürdige Situation gerät, die sich mit einem bestimmten Duft verbinden lässt, den man auch kaufen kann, hat man vermutlich bereits schon 20 andere Düfte ausprobiert.
Der zahmere und unbekanntere Background-Bruder hieß übrigens schlicht „Bogner Man“, erblickte 1990 das Licht der Welt und stieg mir nicht nur aufgrund seiner kuscheligen Vanille-Moschus-Noten zu Kopf, sondern auch wegen Martin vom Ammersee. Der 1,90 Meter große, sportliche Sunnyboy mit dunkelbrauner Wuschelfrisur, leuchtend-grünen Augen, Zahnpastalächeln und inzwischen der Ex-Ex-Ex-Freund meiner Halbschwester, den diese zwecks eines gemeinsamen Kinoabends mitschleppte, trug den Duft zur Spätvorstellung auf seinem sonnengeküssten Stiernacken. An den Film kann ich mich nicht mehr erinnern, doch Martins Duft, der durch Popcorn- und Cola-Schwaden, zu mir rüberwaberte, werde ich nie vergessen. „Bogner Man“ verschwand eines Tages vom Markt, wie Martin von der Seite meiner Schwester: einfach so! Ohne Begründung.
Ein Jammer, denn „Bogner Man“ war einer der wenigen aquatischen Düfte, die zwar frisch, aber markant genug waren, um nicht beliebig zu wirken. Für alle Jahreszeiten und Gelegenheiten bestens geeignet.
Auch wenn Bogners Duftkreationen bei der breiten Masse nie so populär waren wie die Duftstars anderer deutscher Modemarken, gebe ich ein großes WOW für „NOW“ von Sônia Bogner. Die tropisch-grüne Duftbombe belegt den dritten Platz auf meinem Siegertreppchen olfaktorischer Highlights. Blumig-orientalisch, pudrig, balsamisch und so unangestrengt sexy wie ein erfrischender Regenguss auf gebräunter Haut am Strand von Mauritius. Im Jahr seiner Markteinführung 1992 verstaubte „NOW“ auf der Schlafzimmerkommode meiner Mutter. Sie bevorzugte „Venezia“ von Laura Biagiotti. Also sackte ich „NOW“ ein. Das Flaschendesign ist mir bis heute ein Rätsel. Eine Art gläserner Knäuel mit goldenem Hütchen-Deckel. Skulpturaler Charakter. Sieht toll aus, und ist ein echter Handschmeichler. Doch was genau der Flakon darstellen soll, konnte ich bis heute nicht eruieren. Vor vielen Jahren habe ich ein Praktikum im Designstudio der Firma Bogner gemacht und dabei die 2017 verstorbene Modemacherin hinter diesem Nasen-Schmankerl kennenlernen dürfen. Ich erlebte sie wie diesen Duft: lebensbejahend und sinnlich, den Moment auskostend, eben ganz „NOW“. Ich war neu in der Stadt und irre stolz für das Münchner Traditionsunternehmen mit dem großem „B“ zu arbeiten.
Antje war eine verzogene Göre und die etwas zu kräftig geratene und sehr selbstbewusste Tochter eines erfolgreichen hessischen Unternehmerpaares. In der fünften und sechsten Klasse war sie meine beste Freundin. Antje trug ein Parfüm, das ihre Eltern ihr aus Amerika mitgebracht hatten. „New West for Her“ von Aramis. Eine Kosmetikmarke, die zum Portfolio des amerikanischen Estée-Lauder-Konzerns gehört. Seit „New West“ habe ich eine bestimmte Vorstellung davon, wie sich das Strandleben in Kalifornien anfühlen muss. Denn so wurde die Kreation von Parfümeur Yves Tanguy aus dem Jahr 1990 beworben, als „der Duft Kaliforniens“ ̶ für mich der ultimative Chypre-Hammer. Damit roch Antje zum Anbeißen gut: unbeschwert süß wie Fruchtsalat mit ganz viel Honigmelone und frisch wie eine gekühlte Salatgurke. Moos, Ambra und Zeder in der Basisnote verliehen dem Parfüm eine gewisse Tiefe, die sich gut mit dem Begriff Freundschaft assoziieren ließ. Dazu passte, dass Antje und ich nach der Schule oft an einem kristallklaren Bach abhingen, an dessen Ufer sattgrüne Gräser in die Höhe sprossen und wir darüber philosophierten, mit wem aus der coolen Beverly-Hills-90210-Clique wir am ehesten daten würden. Wenn Kelly Taylor in ihrem rotem BMW-Cabrio auf dem Weg nach Malibu Beach einen Duftschleier hinter sich herzog, dann ganz sicher den von „New West for Her“. Der Duft weckt Assoziationen von Fun und Freiheit an einem türkisblauen Pool in L.A. und Erinnerungen an sorglosen Spaß mit Antje am River-of-no-Parfum.
In meinem Schuhkarton mit den aufbewahrten Parfümproben fand ich auch eine Miniatur von „Giò de Giorgio Armani“, dem Lieblingsduft meiner Großmutter. Der netten, väterlicherseits. Ich öffnete den kreisrunden, goldfarbenen Stopfen und ließ den Duft der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in meine Nasenhöhlen steigen. Der Duft gibt einem ordentlich eins auf die Zwölf! Pfirsich und weiße Blüten machen ihn blumig-fruchtig, und aufgrund des Einsatzes von Styrax, eines vom Storaxbaum gewonnenen Naturharzes, auch balsamisch-warm. Kontrastreich und sehr komplex komponiert. Ich rieche sogar eine frische, leicht seifige Unternote heraus.
Der Flakon: ein schlichtes, flaches, abgerundetes Rechteck mit feinen Wölbungen auf der Vorder- und Rückseite. Elegant und zeitlos, wie die Mode von Giorgio Armani. Warum nur, nimmt man so einen Geniestreich vom Markt? Dieses Parfüm hatte das Zeug zum Klassiker. Meine Oma verwendete den Duft großzügigst, ganz so, wie es ihr ihre beste Freundin Ruth, eine echte Französin, gezeigt hatte. Denn Ruth nebelte sich stets in großer Geste, mit weit ausgefahrenen Armen von Kopf bis zur Taille mit unzähligen Sprühstößen ein. So auch meine Großmutter mit „Giò de Giorgio Armani“, auch im Sommer. Zurückhaltung? Ach, wieso denn? Wenn wir über die Frankfurter Zeil schlenderten, konnte es passieren, dass sie mal eben bei Hertie einkehrte, um sich am Armani-Counter mit „Giò“ zwischendurch die Hände zu desinfizieren.
Silvester 1995: „GayDay“ auf Ebene 7 der Zeilgalerie. Hoch über den Dächern der Stadt und vor der glitzernden Skyline Frankfurts begegne ich Roland – Mister Testosteron. Tief aufgeknöpftes Jeanshemd, Brustmuskeln wie halbierte Bowlingkugeln, blaue Augen und kein Typ großer Worte. Ich war hin und weg. Von Robert und „Versus“. Ein richtiger Neunzigerkracher.
Die Leidenschaft hielt nur eine Nacht, denn Robert war in festen Händen. Doch die Begeisterung für Gianni Versaces Schwulen-Lockstoff blieb.
„Versus“ beginnt zitrisch-frisch mit Lemon Pie und Lavendel. Doch schon beim Übergang von der Kopf- zur Herznote verdunkelt sich die Duftwolke. Palisander und Koriander treffen aufeinander, vermischen sich mit düsterer Iriswurzel und kontrastieren mit floralen Noten wie Nelke und Jasmin. Die Chose endet unerwartet rassig, in einer Flut aus sinnlichen Hölzern, Amber und Moschus. Cool, dynamisch, maskulin, aber ganz gewiss nicht old-school. Ein Duft für Bad Boys. Kein bisschen gefällig und gerade deswegen so addictive. Typisch Gianni Versace.
Was ist der Mensch ohne seine Erinnerungen? Ohne „Background“, „Bogner Man“, „Now“, „New West“ „Gio“ und „Versus“ will ich nicht sein.
Leider versuchen die meisten Inhaber dieser Raritäten aus meinem Bedürfnis, die Erinnerung an meine Jugend mittels Sicherung von duftenden Restposten zu konservieren, unverhältnismäßig viel Kapital zu schlagen. Für meine Duftlieblinge, allen voran „Background“, wurden auf Ebay schon bis zu 500 Euro für ein 75-Milliliter-Fläschchen Eau de Toilette veranschlagt. Eine Garantie, dass die fast 30 Jahre alten Düfte nicht gekippt sind, gibt es trotz der astronomischen Preise natürlich nicht. Das stinkt mir gewaltig! Hinzu kommt, dass so manch grandioser Duft zur Halbzeit seiner viel zu kurzen Existenz „reformuliert“, sprich dem riechenden Zeitgeist angepasst wurde. Das ist alles andere als eine dufte Sache. Denn das „gewisse Etwas“, was den Duft in seiner Originalversion so besonders gemacht hat, blieb dabei fast immer auf der Strecke.
Schon klar, bei 100 Neuerscheinungen im Jahr bekäme jede Parfümerie irgendwann einmal ein Platzproblem, wollte sie jeden Duft auf ewig in ihrem Sortiment führen. Warum aber richten die Parfümhersteller keine Duft-Archive ein, aus denen Fans aus aller Welt bei Bedarf ihren Duftschatz online nachbestellen können? Hallo Puig, Coty, Estée Lauder, Inter Parfums, Clarins, L’Oréal, BPI, LVMH, Euroitalia: Hört Ihr mich?
Immerhin gelang es mir neulich ein großes Fläschchen „Versus“ aus dem Jahr 1991 für unter hundert Euro zu ersteigern. Somit ist eine meiner großen Lieben zurück, und ich hoffe, sie wird noch lange bleiben.

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